Die Anfänge des Genres Oper lassen sich bis in die Renaissance zurückverfolgen, als Italien begann, Frankreich als berühmte Wiege der Musik für sehr lange Zeit abzulösen – Claudio Monteverdi und seine Zeitgenossen entwarfen Ende des 16. Jahrhunderts diese erste Form des Musiktheaters, um die Kunst nicht mehr nur den höheren Gesellschaftsschichten vorzubehalten, sondern für alle Stände zu öffnen.
Schon bald nahm sich auch der „prete rosso“ Antonio Vivaldi als Mitglied der Venezianischen Schule dieser Idee an und schuf zahlreiche Barockopern, die der Nachwelt entweder unbekannt oder nicht überliefert sind. Eines seiner letzten Werke ist das 1735 uraufgeführte „Bajazet“. Das Theater an der Wien gestaltete in der Kammeroper eine Neuproduktion der venezianischen Oper und adaptierte es an die heutige Zeit.
Das Libretto von Agostino Piovene handelt von einer Geschichte, die Mitteleuropa seit dem 15. Jahrhundert intensiv beschäftigte und auch mehrere Autoren bereits in Dramen oder Musiktheaterwerke verarbeiteten. Im Mittelpunkt steht dabei die langjährige Rivalität zweier orientalischer Herrscher. Um 1402 wurde der Osmane Bayezid I. vom mongolischen Stammesanführer Timur Lenk während der Schlacht von Ankara besiegt und gefangen genommen – aus damaliger wie heutiger Sicht ein Auslöser des Untergangs jener Weltmacht. Ab diesem Zeitpunkt weicht das Libretto von historisch belegten Fakten ab, polarisiert Charaktereigenschaften wie die Tamerlanos, macht Bajazet zu einem Selbstmord begehenden Held, erfindet eine Liebesgeschichte zwischen dem Nachwuchs der beiden Herrscher. Piovenes Tragödie ist kurz und auf den Punkt gebracht, aber dennoch genauestens ausgearbeitet und umfasst eine mitreißende Storyline. Genau der perfekte Stoff für einen Komponisten, der in seinem eigenen Leben alle Tabus brach…
Für seine Oper bediente sich Vivaldi eines Mittels, das auch heute – wenn auch nicht unter demselben Begriff – gerne verwendet wird: das Pasticcio. Durch das Libretto arbeitete er nicht nur die politischen Themen Mitteleuropas auf, sondern sagte seiner größten Konkurrenz geschickt den Kampf an. Denn um 1730 begann sein künstlerisches Ansehen in der Geburtsstadt Venedig allmählich zu sinken. Vom Süden Italiens bahnte sich eine neue Idee der Oper, die neapolitanische Schule, an, deren Beliebtheit in der Bevölkerung bald keine Grenzen mehr kannte.
Und so machte er Bajazet zu einer Zusammenstellung aus mehreren, bereits vorhandenen Werken. Er klassifizierte die Charaktere musikalisch in Gut und Böse: Seine freundlich gezeichneten Persönlichkeiten wurden mit neu arrangierten Partien aus seinen bereits geschriebenen Opern unterlegt, während die Antihelden sozusagen Arien der feindlichen Neapolitanischen Schule bekamen. Damals war Copyright noch kein großes Ding, weshalb Vivaldi oft nicht einmal Orchesterbesetzung geschweige denn Text änderte.
Wenn man eher Werke aus der Hochblüte der Oper zwischen Mozart und Puccini kennt und liebt, dann ist Bajazet als eines der ersten Stücke dieses Genres für jenes Ohr sicherlich ungewohnt. Eine Ouvertüre im klassischen Sinn gibt es noch nicht. Die Orchestrierung legt einen besonderen Fokus auf die Streichinstrumente. Da-capo-Arien wechseln Seccorezitative – also durchkomponierte Szenen mit alleiniger Begleitung durch in den meisten Fällen das Cembalo – ab. Trotzdem ist die Musik eingängig und schmiegt sich ans Ohr verglichen zur Polyphonie und der Zwölftonmusik des letzten Jahrhunderts regelrecht an. Das Orchester Bach Consort Wien unter der hochprofessionellen musikalischen Leitung von Roger Díaz-Cajamarca dominierte den Abend mit wunderschönen Klangfarben. Unter seinem Dirigat wurde Vivaldis Musik belebt, erfrischt und neu arrangiert – Gänsehautmomente!
Regisseur Krystian Lada versetzte Bajazet durch eine Rahmenhandlung in die heutige Zeit. Ursprünglich begegnen wir einem jungen Team, das gemeinsam die Barockoper für ein Hörspiel einsprechen will. Die Kulisse von Didzis Jaunems zeigt ein modernes Tonstudio mit einem Aufnahme- und einem Pausenbereich, wobei über die Bühne Kisten verteilt sind, die verschiedene Materialien für den perfekten Sound (beispielsweise Steine für raschelnde, Sand für rieselnde Geräusche) beinhalten. Während der Aufnahme kriselt es zwischen den Darstellern; zu sehr sind sie ihren Rollen verhaftet und übertragen die Emotionen der fiktionalen Charaktere auf ihre persönlichen Verhältnisse.
Grundsätzlich habe ich nichts gegen im Nachhinein erfundene Rahmenhandlungen. In den meisten Fällen sind sie durch eine neue Sichtweise sogar sehr bereichernd. Die von Bajazet war mir persönlich leider ein wenig zu viel; teilweise wurden die Eigenschaften einiger Figuren stärker polarisiert, als notwendig gewesen wäre. Besonders Tamerlanos Handlungen verstören bewusst und machen ihn zu einem manischen Egoisten, während Asteria, Bajazets Tochter, in eine Art Opferrolle schlüpft. Auch da muss unbedingt betont werden, dass diese Regieführung komplett Geschmackssache ist – ich selbst ertappte mich öfters während der Vorstellung, dass ich bei einigen brutalen oder irritierenden Szenen einfach wegschauen wollte.
Eine zutiefst beachtliche Leistung legte das Ensemble, allesamt aufstrebende junge Darsteller, hin: allen voran Kristjan Jóhannesson als Titelrolle Bajazet, der mit einem samtigen, technisch hervorragenden Bass sein Schicksal besang. Auch der Countertenor Rafal Tomkiewicz (Tamerlano) konnte vor allem mit seiner Arie im ersten Akt und seinem schauspielerischen Talent punkten, „Asteria“ Sofia Vinnik, Andrew Morstein (Andronico) und Valentina Petraeva (Irene) standen ihm um nichts nach.
Eine grandiose Performance bewies Miriam Kutrowatz mit ihrer Hosenrolle der Idaspe. Sonst an der Produktion passiv beteiligt, zog sie das Publikum mit ihrer einzigen, dafür sehr anspruchsvollen Arie vom ersten Ton an in ihren Bann.
Ich muss gestehen, dass mir diese frühen Juwelen der Oper bis dato völlig unbekannt gewesen sind – barocke Werke landen (zumindest szenisch) nicht häufig auf dem Spielplan der Wiener Theater, weshalb ich nur wenige Bezugspunkte zu dieser Epoche habe. Dennoch hat mir diese Produktion vorläufig meine Scheu vor der sogenannten „alten Musik“ genommen und ich bin nach wie vor positiv überrascht von der genialen Komposition, genauso wie dem starken Ensemble und der musikalischen Umsetzung!