Am Ende verläuft immer alles anders, als man es sich erwartet hätte. Wie sehr sich dieser Spruch heuer bewahrheitet hat, muss wohl nicht weiter erläutert werden. Trotz der herausfordernden Zeit mit gut einem halben Jahr Sendepause für die darstellenden Künste, trotz abgesagter Produktionen, trotz der unangenehmen Folgen dieser globalen Pandemie sollen die nächsten Zeilen dieses ungewöhnliche Jahr Revue passieren lassen. Und vielleicht ist es sogar möglich, dass bei der Erinnerung an die heurigen Sternstunden der Musiktheaterszene eine Versöhnung mit den Schrecken von 2020 stattfinden kann…
Traditioneller Einstieg ins frische Jahr 2020 ist das berühmte Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, das neben Radetzkymarsch und Strauß-Melodien einen musikalischen Vorgeschmack auf gleich drei kommende Jubiläen gibt: Zum einen feiert der Austragungsort selbst, der Musikverein, seinen 150. Geburtstag. Nur einhundert Jahre vorher hat eine andere, diesmal durch und durch menschliche Größe in Bonn das Licht der Welt erblickt – sein Name ist Ludwig van Beethoven. Auch wenn man bei der Erwähnung des Klassik-Giganten wohl eher an Klaviersonaten, Symphonien, Solokonzerte denkt, hält ein ganz besonderes Werk auch Einzug ins Musiktheater. Allein in Wien warten gleich zwei Neuproduktionen in zwei verschiedenen Fassungen seiner einzigen Oper Fidelio auf die Premiere. 300 Kilometer weiter westlich bereitet sich währenddessen Präsidentin Helga Rabl-Stadler auf die mittlerweile 100. Ausgabe der Salzburger Festspiele vor, die dieses Jahr mit ganzen elf Produktionen von Jedermann über Elektra und die Zauberflöte auf mehreren Standorten die ganze Stadt in eine Bühne verwandeln soll.
Noch zwei weitere weitgehende Veränderungen werden die Kulturlandschaft in der Bundeshauptstadt fortan prägen. Noch dieses Jahr wird Dominique Meyer, Direktor der Wiener Staatsoper, dem Kulturmanager Bogdan Roscic, das Amt übergeben, während die Vertragsverlängerung von Volksoperndirektor Robert Meyer noch in den Sternen steht. Alles in allem erwartet das Wiener Theaterpublikum also eine aufregende Zeit mit vielen spannenden Ereignissen und vielversprechenden Produktionen!
Hinsichtlich der anbrechenden herausfordernden Zeiten läuft zunächst alles in gewohnter Manier ab. Das noch junge Jahr verläuft aus kultureller Sichtweise recht unspektakulär, doch hinter den Kulissen geschieht so einiges. Eine türkis-grüne Regierung wird im Jänner angelobt und die Kultur wird in einem Staatssekretariat geparkt. Während Werner Kogler neben Vizekanzleramt und Sport auch zum Kulturminister ernannt wird, liegt das Zepter dennoch in der Hand der ehemaligen Europapolitikerin Ulrike Lunacek. Abgesehen davon wird der Opernball im Haus am Ring auch heuer ein absolutes Highlight im Februar und lädt mehr als fünftausend Gäste zu einer rauschenden (und vermutlich rauschigen…) Ballnacht ein. Die Neuproduktion des Fidelio an jenem Ort erntet mehr Buhrufe als Jubel, die Volksoper freut sich über eine gelungene Premiere von Strauß‘ Zigeunerbaron am Schalttag.
Ernst wird die Lage jedoch sehr bald. Unruhe keimt auf, als in Österreich in den ersten Märztagen ein neuartiges Virus steigende Infektionszahlen produziert: Von China aus über Italien landet der Erreger SARS-CoV-2 nun auch in Österreich, wo die Regierung rasch reagiert. Am 10. März müssen die Kulturbetriebe vorläufig überstürzt zusperren. Drei Tage später wird ein Szenario verkündet, das in der Geschichte der Zweiten Republik bis dato einzigartig ist: Ab nun gilt ein Lockdown mit allem Drum und Dran – von Ausgangs- über Kontaktbeschränkungen und Schließung von Gastronomie und Gewerbe. Dauer? Voraussichtlich bis Mitte April. Man freue sich nicht zu früh…
Streams ins eigene Wohnzimmer, Badezimmer oder sogar in den Garten werden von den Theatern eingerichtet, nachdem der Schock über das schnelle Zusperren überwunden worden ist. Das neue Motto lautet: Kommt ihr nicht zu uns, kommen wir eben zu euch! So öffnet beispielsweise die Wiener Staatsoper ihr Online-Portal für alle kostenfrei und bietet bereits gefilmte Vorstellungen jeden Tag gratis an. Auch der österreichische Rundfunk bemüht sich nach Leibeskräften, die nun entfallenen Premieren via Live-Übertragung stattfinden zu lassen. Mit Geisterpublikum, versteht sich. Trotzdem ist es nur ein kleiner Trost für all die passionierten Theatergeher, die sehr bald am eigenen Leibe erfahren, dass die Flimmerkiste das Flair eines Zuschauerraums wohl kaum ersetzen kann.
Hilferufe hagelt es vonseiten vieler Kulturschaffenden. Aufgrund der Ausgangsbeschränkungen – nein, die folgende Aktivität ist in der berüchtigten „Fünf-Gründe-um-das-Haus-zu-verlassen“-Liste NICHT integriert – ist der Probenbetrieb in allen Theatern komplett eingestellt worden. Gleichzeitig sagen desillusionierte Stätten gleich ihre für den Sommer geplanten Produktionen ab; der Grund, um Albert Einstein zu zitieren: „The future is unknown.“ So erleiden die in dieser Branche Tätigen immense Umsatzverluste. Freischaffende sind finanziell besonders betroffen. Und trotzdem lassen sich viele Künstler nicht unterkriegen, werden in dieser ungewissen Zeit selbst kreativ. Die Projekte, die dabei herauskommen, können sich definitiv sehen lassen, wie die kommenden Beispiele demonstrieren sollen!
Operette über Instagram, virtuelle Chöre im Collagenformat, Fensterkonzerte. Je ungewöhnlicher, desto besser, lautet die Devise im April und im Mai. Ausgebildete Darsteller singen für ihre Nachbarn, andere während langer Autofahrten. Sänger liefern als Pizzaboten zur Bestellung noch ein Ständchen vor die Tür. Dramaturgen starten Buchprojekte, Regisseure inszenieren Musiktheaterstücke via Videoaufnahmen. Die Kreativität bleibt trotz der Ausnahmesituation nicht auf der Strecke, sondern entfaltet sich nun durch die unterschiedlichsten Projekte. An alledem darf das Publikum in den meisten Fällen gratis teilhaben – und es wird dankbar angenommen.
„Wenn diese Welt einmal vergeht, dann ist es doch die Kunst, die bleibt“, predigt schon Annina Giró in Vivaldi – die fünfte Jahreszeit. Wie Recht sie damit hat, zeigt sich durch diese Pandemie im vollen Ausmaß. Trotz geschlossener Theater wird die Kunst, wird Musik, wird das Musiktheater zu einem Anker für all jene, die auf die weltumspannende Misere mal kurz pfeifen wollen.
Was die Stimmen der durch Corona am Rande der Existenz kämpfenden Künstler betrifft, so bringt nach langem Schweigen eine unheilvolle Pressekonferenz der amtierenden Staatssekretärin zwar Lockerungen für die bildenden, aber nicht für die darstellenden Künste mit sich. Von schneller finanzieller Unterstützung ist die Rede, in Wahrheit dauert es dann doch mehrere Wochen, bis die ersten Hilfeleistungen ankommen. Zu Recht fühlen sich Veranstalter und Mitwirkende auf und hinter der Bühne im Stich gelassen. Kultur ist systemrelevant! Das ist das Zeichen, das die Theaterbranche jetzt setzt. Eine wahrhaftig große Überraschung, wenn man bedenkt, dass Musik und Theater allein mindestens seit dem antiken Griechenland existieren…
Mitte Mai erscheint Licht am Ende des Tunnels. Kulturminister Kogler macht Hoffnung, dass der Spielbetrieb im Juni mit einer auf 100 Personen beschränkten Zuschaueranzahl wiederaufgenommen werden kann – wenn irgendwie möglich, kontaktlos. Also versuchen die Häuser, das Beste daraus zu machen und stellen in Windeseile ein improvisiertes Programm zusammen. Ob sich dieses nach der kurzen Vorbereitungszeit wohl sehen lassen kann?
Und wie! Die Wiener Theater bemühen sich im Juni nach Leibeskräften, das Publikum wieder zurück in ihre Säle zu holen. Kleinere Betriebe veranstalten Benefizkonzerte im intimen Rahmen, im Musikverein und Konzerthaus spielen nach langer Pause wieder Philharmoniker und Symphoniker… und was geschieht mit dem Musiktheater? Dieses wird sich nun auch mit konzertanter Form begnügen müssen. Sowohl Staatsoper als auch Volksoper bieten in diesem Monat Hochkarätiges aus der Literatur – und laden auf eine Traumreise in die Welt, in die bessere Welt der Künste ein.
Sommer – endlich ist er da! Die großen Häuser legen ab Juli ihre alljährliche Spielpause ein. Jetzt ist die Zeit für die Sommerfestivals gekommen, ihre Freiluftproduktionen für das Publikum zu öffnen. Eine herbe Enttäuschung: In der großen Kulturnation Österreich findet vieles davon nicht mehr statt. Das Angebot heuer ist durch die Absagen oder Verschiebungen der letzten Monate extrem reduziert, die Hygieneauflagen streng. Trotzdem kehrt eine gewisse Normalität ins Kulturleben zurück. Auf dem Salzburger Domplatz kann der Jedermann (fast) wie gewohnt stattfinden, das Donauinselfest taucht als Pop-up-Event an mehreren Plätzen der Bundeshauptstadt in verkleinerter Form auf, in der Wiener Umgebung werden die Burg Perchtoldsdorf und die Mödlinger Innenstadt zu Theater-Hotspots. So kehrt langsam, aber sicher eine gewisse Normalität in die Kulturszene zurück, die sich mit weiteren Lockerungen der Schutzmaßnahmen für die nächsten Monate halten wird – und Österreich verglichen zu anderen europäischen Staaten lange Zeit zu einer Insel der Seligen macht.
Trostlos haben die mehr als 60 „veranstaltungslosen“ Tage im Lockdown gewirkt. Vonseiten der Bundesregierung heißt es Anfang September, man wolle unter jeden Umständen ein weiteres Herunterfahren des Jahres vermeiden. Deshalb werden von den Häusern für den kommenden Saisonstart umfassende Präventionskonzepte erarbeitet, die Mitarbeiter und Publikum bestmöglich vor einer Ansteckung mit Covid-19 schützen sollen. Übrigens: Staatssekretärin Andrea Mayer ernennt die niederländische Opernregisseurin Lotte de Beer zur nächsten Direktorin der Volksoper, während Meyers Amtszeit nach fünfzehn Jahren zu Ende geht. Ansonsten verläuft der September so normal wie nur möglich. Die Ära Roscic hält an der Wiener Staatsoper mit drei großen Premieren erfolgreich Einzug – im Gegensatz zu anderen Theatern im europäischen Raum wird in Wien mit voller Besetzung gespielt. Darsteller dürfen aus dem Ausland anreisen und der Chor steht auch, wenn es die Partitur verlangt, zu sechzigst auf der Bühne. Maskenpflicht während der Proben und wöchentliche Coronatests werden zur neuen Normalität.
Ganz wirkt es, als würden die Maßnahmen ziehen. Ab Mitte August steigen die Infektionszahlen auf dem gesamten Kontinent kontinuierlich, die vorhergesagte zweite Welle schlägt mit voller Kraft zu. Die Ansteckungen mögen zwar hoch sein, aber – und das ist die gute Nachricht – kaum eine lässt sich auf einen Kulturbetrieb zurückführen. Im Gegenteil, die Musiktheaterbranche bleibt von Clusterbildungen weitgehend verschont. Die schlechte Nachricht: Trotz der vielen Bemühungen schlittert das Land hinein in… Wer weiß es?
Oktoberende. Richtig erraten! Der nächste Lockdown steht vor der Tür. Noch dürfen die Theater mit maximal 1000 Besuchern wie gewohnt spielen, bevor sie ab 3. November erneut in den Dornröschenschlaf versetzt werden. Besonders in diesen letzten Tagen vor dem „Lockdown light“ verbuchen die Betriebe eine hohe Auslastung – anders als im Frühjahr gibt es diesmal eine Vorlaufzeit, die die Massen zu einem Theaterbesuch mobilisiert. Auch am 2. November sind fast alle Veranstaltungen ausverkauft, als sich der Terroranschlag von Wien ereignet: Tausende sitzen nun unfreiwillig in den im 1. Bezirk gelegenen Häusern aus Sicherheitsgründen fest, bis mehrere Stunden nach Vorstellungsende die Entwarnung kommt und die Anwesenden evakuiert werden. Nach dieser ereignisreichen Nacht werden die Tore geschlossen – und was sich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzeichnet: Sie werden in diesem Jahr 2020 nicht mehr geöffnet werden.
Offiziell sind die Theater also zu, doch es wird fleißig weitergeprobt. In Kooperation mit dem ORF realisiert die Wiener Staatsoper sogar die Ausstrahlung von ursprünglich geplanten Premieren, die Volksoper öffnet für ihr Publikum Produktionen auf der Streamingplattform fidelio, kleinere Theater wie beispielsweise die Theatercouch übertragen online Benefiz-Weihnachtskonzerte. Optimistisch bereitet man sich auf eine Wiederaufnahme des Spielbetriebes vor und hofft auf ein baldiges Wiedersehen nicht im Wohnzimmer, sondern im Zuschauerraum.
Nur knapp die Hälfte von 2020 war ein regulärer Spielbetrieb in den heimischen Theatern und Opernhäusern möglich, während der Rest Miss C. zum Opfer fiel. Es ist ein Jahr gewesen, wie es so in der Geschichte noch nie vorgekommen ist. Was an dieser Stelle wirklich wichtig ist: Wir haben das Beste aus der Situation gemacht! Die Kulturszene ist an der Herausforderung nicht gescheitert, sondern hat alles gegeben, die Menschen zuhause dennoch zu erfreuen. In nur wenigen Tagen ist zwangsläufig eine Digitalisierung des Theaters geschehen, für die es in anderen Zeiten viele Jahre gebraucht hätte. Diese Spontanität betrifft auch die tatsächlichen Vorstellungen: In den meisten Fällen haben wir – ob das jetzt gut ist oder nicht, sei dahingestellt – die gesundheitspolitischen Entscheidungen mitgetragen, haben Pop-up- und Fensterkonzerte genossen, haben sie selbst gegeben, haben den Optimismus und die Freude an der Arbeit nicht verloren. Nehmen wir diese positive Einstellung auch fürs nächste Jahr mit. Gehen wir hoffnungsvoll ins neue Jahr. Und mögen wir immer daran denken: Die Show muss (wird) weitergehen!