Märchenfiguren mal anders – die Bedeutung der Tiere im Musical „Into the Woods“

Es ist jene zündende Idee gewesen, ohne die es das Musiktheater, wie wir es heute kennen, wohl kaum geben könnte: Mit dem Grundgedanken, Stoffe aus der antiken Mythologie und aus Volksmärchen zu vertonen, entstanden um 1600 die ersten richtigen Werke, die die Bezeichnung „Oper“ nach heutiger Definition verdienen. Paradebeispiel dafür ist die vielfache Vertonung der Orpheus-Sage, unter anderem durch Monteverdi, Gluck und Offenbach. Aber auch Wagner fand mit seiner Interpretation des aus nordischen Erzählungen entstandenen Nibelungenlieds großen Anklang, während Rossini mit La cenerentola (Aschenbrödel) einen weiteren Meilenstein in der Buffo-Oper erreichte.

Mehr als 150 Jahre später folgte auch der Amerikaner Stephen Sondheim dem Vorbild seiner Komponisten-Kollegen, als er mit dem jungen Co-Autor James Lapine nach dem großen Triumph des Musicals Sunday in the Park with George die Arbeit an Into the Woods aufnahm. Doch es sollte nicht nur eine einzige Erzählung werden, auf der das Musical basiert: Das Duo konzipierte daraufhin ein neues, modernes Märchen, in das traditionelle Geschichten miteingebunden wurden.

So müssen ein Bäcker und seine Frau, um sich den lang gehegten Kinderwunsch zu erfüllen, auf Anweisung der Hexe im Wald Märchenfiguren ausfindig machen und ihnen bestimmte Gegenstände entwenden:

Die Kuh so weiß wie Milch, das Mäntlein rot wie Blut, das Haar so gelb wie der Mais, den Schuh aus purem Gold… (Hexe in ‚Into the Woods‘, Opening Teil 6, Übersetzung M. Kunze)

Ohne den Handlungsverlauf stark zu beeinträchtigen, kann das Bäckerpaar die Kuh aus Hans und die Bohnenranke, Rotkäppchens Cape, Rapunzels Haarsträhnen sowie Aschenputtels verlorenen Schuh besorgen – der 1. Akt führt ohne viele Überraschungen ins Happy End. Jedoch führt eine kleine Unachtsamkeit anschließend zu einer großen Katastrophe: Eine furchterregende Riesin macht das Königreich unsicher, um ihren verstorbenen Gatten zu rächen. Der Ausgang selbst wird an dieser Stelle natürlich nicht verraten…

Originalgetreu verbindet Into the Woods folglich bekannte Volksmärchen aus der Feder der Gebrüder Grimm und anderen Erzählungen mit einer weiteren über den Bäcker und seine Frau. Wie auch in mündlich überlieferten Originalversionen erscheinen im Laufe der Handlung einige Tiere. Schon Bruno Bettelheim stellte in seiner entwicklungspsychologischen Schrift Kinder brauchen Märchen – an jener orientierten sich übrigens Sondheim und Lapine während des Schreibens – fest, dass diese nicht nur zur puren Unterhaltung von Jungen und Junggebliebenen dienen, sondern auch aus psychologischer Sicht für die Handlung und Intention der Geschichte relevant sind. Im Folgenden sollen die einzelnen Tierwesen angeführt und ihre Bedeutung anhand des Textbuches von Into the Woods näher erläutert werden.

Nummer eins: Rotkäppchens Wolf

Gibt man Millennials (also Angehörigen der 2000+-Jahrgänge) wie mir dieses Schlagwort, wird ihnen wohl als Allererstes die gewaltig-charismatische Verkörperung der Figur von Johnny Depp in der gleichnamigen Verfilmung in den Sinn kommen. Kein Wunder, dass jener Hollywood-Schauspieler das Aushängeschild schlechthin für die Disney-Produktion von Into the Woods aus dem Jahre 2014 bietet: Denn ihm gelingt es, den Bösewicht stimmlich wie schauspielerisch genial abzudecken. Grundsätzlich bestehen zwischen dem Märchen-Wolf und dem Musical- und Film-Wolf kaum nennenswerte Unterschiede: Beide sind böse, vif, verführerisch. Genau mit Letzterem, der anziehenden Wirkung, statten die Autoren ihre Figur um einiges stärker aus. Im Wald lauert die Kreatur dem Rotkäppchen, welches ihrer kranken Großmutter einen Kuchen bringen soll, auf. Ziel ist, sie zu überzeugen, Halt zu machen und ein paar Blumen zu pflücken. Natürlich hat der Wolf nichts Gutes im Sinn: Während seines im Blues-Stil geschriebenen Songs ‚Hallo, kleine Frau‘ schleicht er geschmeidig um das Mädchen herum und vergeht fast vor Verlangen nach der alten Dame und ihrer blutjungen Enkelin:

There’s no way to describe what you feel
When you’re talking to your meal!

 (Wolf in ‚Into the Woods’, Hello, Little Girl; deutsche Version: „Es erhöht den Genuss / wenn man von Angesicht / mit dem Abendessen spricht!“)

Johnny Depp als Wolf in der Disney-Verfilmung von Into the Woods (Copyright: Walt Disney Productions, auf dem Bild mit Lilla Crawford als Rotkäppchen)

Rotkäppchen begegnet dem Wolf unvoreingenommen, ja, begrüßt ihn sogar freundlich-naiv. Zunächst ist sie ob seines Vorschlags skeptisch und unterbricht ihn pflichtbewusst, dass sie immer dem Weg folgen solle. Dennoch wird sie bald schwach und bleibt im Wald zurück, um ihrer Oma Blumen zu pflücken. Als das Mädchen dann das großmütterliche Häuschen betritt, muss sie wohl oder übel für ihren Fehler bezahlen, indem sie vom Wolf verschlungen wird. Ab hier entsteht die neue Handlung: Anstelle des Jägers befreit der Bäcker die beiden Frauen aus dem Magen des Monsters und erhält dafür zum Dank das heiß ersehnte Mäntelchen von Rotkäppchen. Dieses stellt daraufhin fest:

Mutter gab mir den Rat: Bleib nirgends stehen und bleib am Pfad
Wenn ich das nur beachtet hätt‘… Doch er schien so nett.

 (Rotkäppchen in ‚Into the Woods’, Ich weiß jetzt mehr)

Somit kann der Wolf nicht nur als durch und durch böse angesehen werden. In Into the Woods wird seiner Persönlichkeit diese zweite, psychologisch tiefgründigere Seite des Verführers hinzugefügt. Als Rotkäppchen seinen Vorschlag hört, kann das Mädchen immer noch selbst entscheiden – und gibt der großen Versuchung nach, im Glauben, das Richtige zu tun. Nun, die junge Protagonistin wird ihre Lektion im Laufe des Märchen-Musicals noch lernen müssen…

Nummer zwei: Hans, Milchweiß und die Henne

Hierzulande ist die aus dem angelsächsischen Raum stammende Erzählung von Hans und der Bohnenranke zwar nicht allzu bekannt, dennoch spielt sie eine tragende Rolle in Sondheims Aufarbeitung. Der junge Hans lebt in ärmlichen Verhältnissen und wird von seiner Mutter zum Markt geschickt, um dort seine Kuh namens Milchweiß zu verkaufen. Doch Fremde passen ihn ab und drücken ihm als Handel für die Kuh einige Bohnen in die Hand. Als er diese pflanzt, wächst eine riesige Ranke gen Himmel; er klettert empor und findet sich im Königreich der Riesen wieder. Schnell schnappt er sich einen ganzen Sack Gold und klettert wieder hinunter: Von diesem Zeitpunkt an leben er und seine Mutter glücklich bis an ihr Lebensende. Nicht so im Musical, aber diese Bemerkung soll hier nicht weiter ausgeführt werden.

Heimliche Protagonistin dieser Geschichte ist Milchweiß. Hans, ein sehr tierliebender Mensch, verbindet mit der Kuh eine innige Freundschaft. Sehr zum Leidwesen seiner Mutter nimmt er sie sogar mit ins Haus, im Glauben, dort könne sie besser Milch geben. Umso bestürzter ist das kleine Herrchen, als die Mutter ihm aufträgt, die Kuh auf dem Markt zu verkaufen. In Hans‘ Kinderaugen ist Milchweiß seine humanisierte Beschützerin und Freundin zugleich. Er redet nicht nur mit ihr, sondern widmet ihr sogar ein unter Tränen gesungenes Abschiedslied:

Der Abschied fällt mir schwer, mein Freund
Ich werde dich wiedersehen;
Ich hoffe, es wird nicht auf einem Teller sein.

(Hans in ‚Into the Woods‘, Jetzt heißt es Lebewohl)

Schweren Herzens muss Hans (Jack Huttlestone) seine geliebte Kuh Milchweiß an das Bäckerpaar verkaufen (Disney-Verfilmung 2014)

Während er Milchweiß dem Bäcker wieder abkaufen will, bricht diese allerdings erschöpft zusammen und stirbt. Doch Hans kommt über seine Trauer schon bald hinweg, da er eine neue beste Freundin aus dem Königreich der Riesen mitgenommen hat: eine Henne, die goldene Eier legt. Auch wenn diese im Gegensatz zur Kuh eine untergeordnete Rolle in Märchen und Musical spielt, so wird auch diese Figur von Hans personifiziert. Wie ein älteres Geschwisterchen gibt er auf seine Haustiere Acht und redet mit ihnen. Somit geht es in dieser Erzählung – wenn auch deutlich verstärkt – um den Grund, weshalb Menschen überhaupt Tiere domestiziert haben. Es geht um die Rolle der Haus- und Nutztiere als nichtmenschliche Gefährten und Unterstützer. Während die Mutter Milchweiß eher als eine Last empfindet, so hängt doch Hans‘ Herz ganz an seiner Freundin.

Nummer drei: Aschenputtels Vögel

Während Co-Autor James Lapine angab, vor Schreibprozess von Into the Woods bereits ein Profi in Sachen Märchen und ihren verschiedenen Überlieferungen gewesen zu sein, so war Sondheims einzige Verbindung zu Märchen die bekannte Disney-Verfilmung von Cinderella aus dem Jahr 1950. Die Geschichte des Stubenmädchens, das auf einem Ball den Traumprinzen kennenlernt und anschließend durch Heirat Herrscherin an seiner Seite wird, ist in allen Kulturen, in allen Völkern von Afrika über China bis Südamerika weit verbreitet.

Auch unser deutsches Aschenputtel hat prominente Helferlein aus dem Tierreich. Im elfminütigen Prolog von Into the Woods wird dem Publikum die Ausgangssituation der einzelnen Märchen mit mehreren, parallelen Handlungssträngen in durchkomponierter Form nähergebracht. Während sich die Bösen der Story, Stiefmutter und Stiefschwestern, für den Gala-Ball vorbereiten, beschwört Aschenputtel ihre Freunde aus den Lüften:

Vögel, kommt her
Vögel vom Dach und vom Bach
Fliegt zu mir über Länder und Seen.
  

(Aschenputtel in ‘Into the Woods’, Prolog)

Aschenputtel bittet ihre tierischen Freunde um Hilfe (Landestheater Linz 2016; Foto: Barbara Pálffy)

Wie im Original erleichtern die Vögel nun die Arbeit des Stubenmädchens – gerade rechtzeitig haben sie die Körner in der Asche fertig sortiert und fliehen, als die Kutsche für die Stieffamilie vorfährt. Aschenputtel bleibt völlig verzweifelt zurück, schafft es dann aber verkleidet ebenfalls auf den Ball. Der weitere Verlauf der Geschichte ist den meisten wohl nicht unbekannt; als der Prinz in der dritten Nacht des Fests nach seiner davongelaufenen Angebeteten sucht, nehmen die Vögel eine zweite, weitaus bemerkenswertere Funktion ein: In den Bäumen verfolgen die klugen Tierchen Aschenputtels Schicksal. Kaum reitet der Königssohn zunächst mit der einen, dann mit der anderen Stiefschwester vorbei, schlagen die Vögel sofort Alarm und zwitschern erbost in den Baumkronen: Ihnen gehöre nicht der zweite Schuh. Endlich wird das bisher versteckte Aschenputtel ausfindig gemacht, erwartungsgemäß passt ihr verlorener Schuh auf den schlanken Fuß und ohne weiteres Eingreifen der Vögel reiten Prinz und Prinzessin in spe Richtung Königsschloss davon.

Insofern fungieren Aschenputtels Vögel nicht nur als Freunde und Helfer, sondern auch als Richter über Gut und Böse: Erst sie verhelfen dem ehemaligen Stubenmädchen zu seinem Glück, während Lucinda und Florinda unter einer plötzlichen Attacke der Vögel zur Strafe erblinden. Dies kann noch mit einem zweiten Beispiel aus dem Musical unterstrichen werden: Um die erzürnte Riesin buchstäblich zu Fall zu bringen, ruft die Prinzessin ein letztes Mal ihre Helferlein herbei. Bei Anwesenheit aller anderen Protagonisten kommuniziert sie mit ihren gefiederten Freunden und bittet sie, sich die Augen der Riesin ebenfalls vorzunehmen. Auch in dieser Situation entscheiden sich die Vögel, ihr zu helfen und erfüllen ihren Part im Kampf gegen die bedrohliche Riesin.

Neben den prominenten Protagonisten aus dem Tierreich finden sich im Laufe des Musicals hin und wieder andere Lebewesen in „Nebenrollen“: So ist beispielsweise das allgemeine Vogelzwitschern akustische Kulisse vieler Produktionen (vgl. Uraufführung 1987 auf dem Broadway) und wird auch als Stilmittel für die Handlung eingesetzt. Im 2. Akt bemerkt Aschenputtel plötzlich, dass alle Vögel verstummt sind, und interpretiert richtigerweise, dass wohl Gefahr im Verzug ist. Als der Wolf Rotkäppchen verführt, weist er es, wohl zur Beruhigung, auf die fröhlich zwitschernden Tierlein hin. Weiters zertritt die Hexe zu Beginn des 2. Aktes quasi beiläufig vor den Augen des Bäckerpaars einen Käfer – und das mit deutlich sichtbarem Genuss. Wenn auch nur ein klitzekleiner Moment im zweieinhalbstündigen Musical, so gibt dieser ihrem Charakter dennoch einen weiteren, schwerwiegenden Aspekt: den der scheinbaren Gleichgültigkeit gegenüber anderen Lebewesen, ob Mensch oder Tier.

Mit Sixpack und Vollbart soll der Wolf auch äußerlich bei Rotkäppchen punkten (Linz 2016, Foto: Barbara Pálffy)

Zusammenfassend kann daher gesagt werden, dass alle im Märchen-Musical Into the Woods vorkommenden Tiere eines gemeinsam haben: Allesamt sind sie stark personifiziert. Mit ihrem Einfluss auf die Handlung ergänzen sie wichtige Eigenschaften der menschlichen Protagonisten. Ohne den Wolf könnte Rotkäppchen seine Waghalsigkeit und Naivität nicht erkennen. Ohne seine Liebe zu Milchweiß würde der einsame, verarmte Hans in eine tiefe Depression stürzen. Ohne Vögel kein Gala-Ball für Aschenputtel. Ohne Käfer käme das Desinteresse der Hexe an jeglichen Menschen oder Tieren kaum zum Vorschein. Um die stereotypischen Begriffe „gut“ und „böse“ zu vermeiden, sind viele der Tiere durchaus freundlicher Natur, wie es die Beispiele Milchweiß und Aschenputtels Vögel als Freunde der Menschen zeigen. Aber besonders der Wolf verdient es, aus einem neuen Blickwinkel betrachtet zu werden: Indem er Rotkäppchen in Versuchung bringt, Fehler zu machen, kann dieses erst durch ihn seine eigene Unachtsamkeit entdecken. Schließlich ist es auch nicht schlecht, wenn man hin und wieder auf seine eigenen Fehler hingewiesen wird, nicht wahr? Denn wie heißt es so schön im Lied No One Is Alone („Niemand ist allein“): People make mistakes! Und manchmal schadet es nicht, auf seinen inneren Wolf zu hören oder sich Aschenputtels Vögel zur Unterstützung zu holen.

Hinweis: Dieser Artikel entstand anlässlich der Erstaufführung von Into the Woods an der Wiener Volksoper. Premiere ausstehend.