„La traviata“ und die Nachteile des Influencer-Berufs – über die Neuinszenierung an der Wiener Staatsoper

Sie hat ungefähr gleich viele Instagram-Abonnenten wie Kendall Jenner, besitzt eine eigene Parfümkollektion und ist ein Partytier ohne Ende: Das wäre Violetta Valéry wohl in der Gegenwart. Die Protagonistin aus Giuseppe Verdis meistgespielter Oper „La traviata“ stürzt sich in rauschende Feste, verliebt sich Hals über Kopf in einen jungen Mann namens Alfredo und verbringt mit ihm heitere Tage auf dessen Landsitz außerhalb von Paris. Klingt doch ganz nach einem traumhaft schönen Luxusleben – wäre da nicht ihr strenger Schwiegervater, der sie ihrer gesellschaftlichen Stellung wegen zum Schlussmachen zwingt und, noch schlimmer, ihre schwerwiegende Krebserkrankung. Dass es davor kein Davonlaufen gibt und es wirklich ernst um ihr Leben ist, merkt sie allerdings erst, als es viel zu spät ist.

Das ist Simon Stones moderne Auffassung der berührenden, ursprünglich in der Mitte des 19. Jahrhunderts angesiedelten Handlung. In Koproduktion mit der Pariser Oper bringt der junge Regisseur nun die gefeierte Traviata-Inszenierung an die Wiener Staatsoper, oder besser gesagt: liefert sie am 7. März 2021 live vor den Bildschirm in den eigenen vier Wänden. Welche Rolle dabei ein Fastfood-Stand, ein Traktor und rosarote Faschingskostüme spielen? Ob es funktioniert, eine mehr als 150 Jahre alte Story in die Gegenwart zu verlegen? All dies soll im Folgenden besprochen werden.

Eine riesige Leinwand gibt über Violettas Dasein als Mega-Celebrity Aufschluss

Violetta ist eine Celebrity durch und durch, das zeigt schon die inszenierte Ouvertüre. Zu Verdis herzzerreißend zartschmelzenden Violinklängen gibt eine die gesamte Bühne einnehmende Projektionswand erste Einblicke in das Leben der Protagonistin: Man erfährt von ihren Instagram-Posts, ihrem Freundeskreis, ihrer Followeranzahl, aber auch darüber, wie sie die dringenden Nachrichten ihres behandelnden Arztes ignoriert. Anstelle sich diesem Problem zu widmen, tanzt (singt) sie ausgelassen durch die Nacht. Einen buchstäblich bodenständigen Neubeginn macht Violetta, als sie zu ihrem Lover Alfredo auf das Land zieht. Anstelle von Bars und Kebapständen dominieren nun ein Traktor und eine Kapelle auf der in dieser Szene sonst klinisch weiß gehaltenen Bühne von Robert Cousins. Dass sie sich auf Befehl seines Vaters von Alfredo trennen muss, lässt sie jeglichen Lebensmut und den Glauben an Genesung verlieren – zurück bleibt eine sterbenskranke, zerbrechliche Frau.

Pretty Yende gelingt es, diese enorme charakterliche Wandlung der Protagonistin authentisch darzustellen. Ihre emotionale Bandbreite von Trauer über gespielte Arroganz berührt auch über den Bildschirm, und Yendes mal voluminös, mal in herrlichen Pianissimi bezaubernd klingende Stimme kann diese Bandbreite auch musikalisch verdeutlichen.

Einspringer Juan Diego Flórez kann seine lyrische Stimme auch als Alfredo in der „Traviata“ zur Geltung bringen, wirkt aber im Schauspiel teilweise nicht authentisch genug – als Beispiel sei hier das Finale des zweiten Aktes genannt, wo sich der berühmt-berüchtigte Eifersuchtsanfall der männlichen Hauptrolle leider in nicht mehr als musikalisches Herumschmollen verwandelt. Auch die Kleiderwahl irritiert an dieser Stelle (Kostüm: Alice Babidge). Über Fasching wird zwar gesungen, dennoch entsteht durch einheitliche, rosa gehaltene Kleidung eine inhaltliche Sperrung. Während die von allen Körperteilen wegstehenden männlichen Geschlechtsorgane eher abstoßen, als besonders witzig zu sein, wären bei solch einer gegenwartsbezogenen Inszenierung mehr farbliche Diversität und Fantasie wünschenswert gewesen.

Leere Bühne – bis auf einen Traktor: Das ist Stones Konzept im 2. Akt (alle Fotos: Wiener Staatsoper)

Igor Govalotenko gibt einen ansprechenden Vater und gefällt auch stimmlich gut (wunderschön das Duett mit Yende im 2. Akt); in weiteren Rollen gefallen Donna Ellen als Annina, Robert Bartneck als Gaston, Attila Bokus als maleziöser Baron Douphol sowie Erik van Heyningen (Marquis de Obigny) und Ilja Kazakov (Doktor Grenvil). Im flotten Tempo dirigiert Giacomo Sagripanti das Staatsopern-Orchester und auch der Chor fällt angenehm auf.

Es ist nichts daran verkehrt, die Handlung einer Oper aus der verstaubten Vergangenheit ins moderne Zeitalter zu versetzen. Im Gegenteil, es ist immer schön, zu einem „uralten“ Werk einen neuen, aktuelleren Zugang zu finden. Genau das schafft Simon Stone mit seiner vor allem optisch gewaltigen Inszenierung; seine Violetta des 21. Jahrhunderts ist grundsätzlich lebensnah gezeichnet. Dennoch bleiben bei diesem Konzept noch viele, vielleicht nicht zu Ende gedachte dramaturgische Fragen offen: Was geschieht etwa mit Violettas Medienpräsenz, als sie zu Alfredo auf das einsame Land zieht? Wie geht die Protagonistin damit um, ihren Followern die Krankheitsgeschichte offenzulegen, wie verändert sich ihre Fanbase durch Violettas Krebs? Diese Perspektiven hätten besonders dem 3. Akt eine tiefgehende und neue Bedeutung verliehen.

Ein weiteres Manko betrifft das Bühnenbild und wird durch die Bildregie leider massiv verstärkt. Denn die Projektionen lenken oftmals zu stark vom Bühnengeschehen ab, die handelnden Personen verschwinden buchstäblich vor den Pixeln des flimmernden Hintergrundes. Last, but not least ist nicht ganz ersichtlich, auf welche Weise diese Produktion ins Repertoire aufgenommen werden kann. Die projizierten, sicherlich unglaublich aufwendig erstellten Fotos und Videos von Zakk Hein zeigen allesamt Yende und Flórez als dominierendes Liebespaar; fraglich ist, was geschieht, wenn die beiden Hauptrollen durch Ensemblemitglieder besetzt werden.

Trotz dieser kleinen Macken im Konzept könnte es Simon Stone gelungen sein, durch seine moderne Auffassung von „La traviata“ auch jüngeren Leuten das Genre Oper schmackhaft zu machen. Sein Porträt der Violetta, ein absoluter Social-Media-Star mit durchaus verletzlichen Seiten, wirkt real und aus dem Leben gegriffen. In Kombination mit Giuseppe Verdis zeitlos-phänomenaler Musik hat diese Inszenierung nun auch in Wien das Potenzial, neue Operninteressierte zu finden.