29.05.2021: „Lieder für eine neue Welt“ (Landestheater Linz)

Passender hätte das Landestheater Linz die diesjährige Saison kaum wiederaufnehmen können – der Liederzyklus „Songs for a New World“ (zu Deutsch: „Lieder für eine neue Welt“) von Jason Robert Brown ist die erste Vorstellung vor Publikum seit Monaten gewesen.

Das Erstlingswerk des amerikanischen Komponisten ist in vielerlei Hinsicht besonders. In knapp zwei Stunden liefert der Liederzyklus einen Querschnitt durch die Geschichte Amerikas. Im Vordergrund stehen Personen, die in einem vier- bis siebenminütigen Lied ihre Geschichte erzählen. In jeder Sequenz befinden sich jene Charaktere, 16 an der Zahl, an einem entscheidenden Punkt ihres Lebens. Anhand ihrer persönlichen Konflikte müssen sie herausfinden: Möchten sie ihr Leid weiterhin ertragen? Oder möchten sie den alles verändernden Schritt wagen und sich einer ungewissen Zukunft stellen? Dabei brilliert das Stück vor allem mit einer Zeitlosigkeit, die je nach Inszenierung andere Interpretationen ermöglicht.

Weiters erwähnenswert ist die musikalische Untermalung. In „Songs for a New World” greift Brown unter anderem auf die Musikstile Funk, Soul sowie auf Gospelelemente zurück. Anfangs für manch ein Musicalohr wohl ungewohnt, bieten Browns Lieder eine durchaus willkommene Abwechslung und bieten eingängige Melodien. Auch die Texte sind im Englischen wie im Deutschen, für deren stimmige Übersetzung sich Wolfgang Adenberg verantwortlich zeichnet, aufgeladen mit sprachlichen Mitteln, Wortwitzen und Metaphern.

Simon Eichenberger hat als Mastermind der gesamten Inszenierung (Bühne, Choreographie, Regie, Illustrationen) all das vereint, was eine gute Regieführung ausmacht: Jedes einzelne Lied vermittelt eine Geschichte. Die Charaktere sind tiefgründig gestaltet, man fühlt mit ihrer ausweglos scheinenden Lebenslage mit, mehr noch, identifiziert sich mit ihnen.

Von der Entdeckung Amerikas bis zum Unabhängigkeitskrieg: historische Details sind Jason Robert Browns Spezialität (Foto: R. Winkler)

Während es in einigen Erzählungen um persönliche Lebenskrisen geht, haben andere einen historisch bedeutsamen Kontext. Gleich im ersten Solo geht es um die Entdeckung Amerikas, der „neuen Welt“, die der Protagonist als Passagier eines spanischen Segelschiffes als bedrückend empfindet. In den folgenden Minuten schildert er die Todesangst, die er auf hoher See erfährt – durch Projektionen schafft Eichenberger an dieser Stelle einen tiefgreifenden Bezug zur Gegenwart, indem er Videos von überfüllten Flüchtlingsbooten einblendet.

Diese Aktualität entsteht ebenfalls bei weiteren Passagen: Eine Anspielung auf die „Black Lives Matter“-Bewegung etwa findet im zweiten Teil statt, während zu Beginn das gesamte Ensemble zu Beginn in vollständiger Schutzbekleidung erscheint. Auf der Wand werden Bilder von überfüllten Krankenhäusern gezeigt; Bilder, die seit einigen Monaten Normalität sind und daher nachdenklich stimmen…

Eine für das Auge sehr spannende Bewegungsregie kompensiert für das minimalistisch gehaltene Bühnenbild. Oft ist auf zweierlei Ebenen – durch Stiegen auf der Seitenbühne wird eine zweite Etage geschaffen – das Geschehen zu beobachten, sodass jeder Moment mit Bewegung gefüllt ist. Das kleine Orchester, aus Flügel, Synthesizer und Perkussionsinstrumenten bestehend, befindet sich in der Mitte der Bühne und ist somit für das gesamte Publikum sichtbar. Die Choreographien sind optisch ansprechend und gefallen durch die häufig vorkommenden Synchronitäten, ein absolutes Highlight ist aber Eichenbergers Tätigkeit im Bereich der bildnerischen Kunst. Für jedes einzelne Ensemblemitglied hat der Regisseur sogenannte Oneliner-Zeichnungen entworfen, Bilder, die durch nur einen Strich entstehen. Auch diese sind Teil der umfangreichen Projektionen und unterstützen die Aussagekraft des Stückes.

Geschichten, die berühren und lehren – perfekt in Szene gesetzt (Foto: Reinhard Winkler)

Neben der durchdachten, spannenden Inszenierung ist ein weiterer Höhepunkt die Leistung des Ensembles. Es ist an dieser Stelle unangebracht, die Darbietungen einzelner Mitglieder hervorzuheben – beachtet werden muss das ausgezeichnete Gesamtbild. Jede einzelne Geschichte wird zwar von einer Person erzählt und gesungen, dennoch oft von der Gruppe unterstützt, wodurch alle nicht nur ihre Solo-, sondern auch Ensembleleistungen unter Beweis stellen können. Hanna Kastner, Celina dos Santos, Gernot Romic, Lukas Sandmann, Nina Weiß, Konstantin Zander, Karsten Kenzel, Judith Jandl, Christian Fröhlich und Daniela Dett erschaffen eine auffallende Energie auf der Bühne, die den Zuschauer nur in den Bann ziehen kann. Besonders erwähnenswert: Das Arrangement des drittletzten Liedes, das anstatt einer Protagonistin vom gesamten Frauenensemble gesungen wird  – unheimlich starke, emotionale Performance! Einzig zu Beginn und Ende des Liederzyklus erscheinen die Darsteller in ihrer geballten Kraft und begeistern mit einer tollen emotionalen wie musikalischen Harmonie.

„Von fernem ruft mich eine neue Welt“: So schält sich das Musicalensemble des Landestheaters Linz aus ihren Kokons, legt die Schutzmasken ab, macht sich auf in eine bessere, pandemiefreie Welt. Jason Robert Browns Texte und Musik, von Leading Team und Ensemble perfekt in Szene gesetzt, machen Mut, reißen emotional mit, geben die Chance, zu lernen, aufzuwachen, aber auch niemals die Hoffnung zu verlieren. Ein starkes Lebenszeichen dafür, dass es aufwärts gehen kann und muss – und manchmal nur der entscheidende Schritt fehlt.