02.02.2022: „Peter Grimes“ (Wiener Staatsoper)

Egal, wie wenig vertraut man mit der Opernwelt ist, egal, wie wenig Vorwissen man hat, egal, wie intensiv man sich mit ihren Werken auseinandergesetzt hat: Dass die zweite Vorstellung der Aufführungsserie von Peter Grimes, die 1941 uraufgeführte Oper von Benjamin Britten, etwas Besonderes war, konnte wohl jeder Einzelne im Publikum fühlen. Ein Schreckmoment für einige Besucher im Vorfeld stellte sich als vergebens heraus: Nein, Direktor Bogdan Roscic trat diesmal nicht vor den Vorhang, um bedauernd mitzuteilen, dass die Vorstellung wegen Krankheitsfällen mit einer weniger hochkarätigen Besetzung stattfinden würde, das Gegenteil war der Fall. Unter erwartungsvollem Beifall ließ er dem Publikum zukommen, dass im Anschluss gleich drei Ensemblemitglieder auf offener Bühne geehrt würden.

Einem Satz aus Staatssekretärin Andrea Mayers Rede ist jedenfalls zuzustimmen; Peter Grimes fasziniert und verstört zugleich. Die Ausmaße des menschlichen Dramas rund um den andersartigen, einsiedlerischen Fischer an der englischen Küste, der sich gegen den Hass der Dorfbewohner stellen muss und schlussendlich daran scheitert, reißen mit und berühren, weil Ausgrenzung, Krieg gegen augenscheinlich „Minderwertige“ und Aufarbeitung von Verbrechen wohl in jeder Gesellschaft, in jeder Zeit eine Rolle spielen. Wer sich darauf freute, durch Beherrschung der englischen Sprache eine Oper endlich verstehen zu können, hatte sich getäuscht: Spätestens beim Mitlesen der Original-Untertitel stellt sich die sprachliche und metaphorisch angereicherte Komplexität des Librettos von Montague Slater heraus. Kaum besser könnte die Vertonung dazu passen: Die Interludes bilden die Brutalität der rauen englischen See ab, Melodien sind, dem Inhalt des Werkes geschuldet, selten vorhanden und auch der Chor entfesselt dynamisch eine ungeheuer bedrohliche Kraft, die sich in das Gesamtbild der Bewohner als Mobber ausgezeichnet einfügt. Kein Wunder eigentlich, dass man vor allem als junger Mensch zunächst von den Sinneseindrücken überwältigt ist.

Philosophisch höchst interessant und definitiv zum Nachdenken anregend: PETER GRIMES (am Bild: Jonas Kaufmann; beide Fotos (c) M. Pöhn)

Im Falle der Staatsopern-Produktion ist diesem Gefühl der Überforderung jedoch Abhilfe geschaffen worden. Subtil führt die Inszenierung von Christine Mielitz das Publikum in die unnachgiebige (Um-)Welt von Peter Grimes ein, reduziert die Reize und schafft es dennoch, die Kernaussage des Werkes mit einigen Kunstgriffen – hierbei hervorzuheben die Gestaltung der letzten Szene – zu vermitteln. Simone Young bezaubert am Dirigentenpult mit einer wunderbaren Orchesterführung, die keinen Zweifel daran lässt, dass sie zu den ganz Großen an diesem Haus gehört. Auch sängerisch kann dem Ensemble nichts anderes gegenübergebracht werden als Hochachtung – Jonas Kaufmann in der Titelrolle gelingt es, den Zwiespalt seiner Rolle glaubwürdig und berührend darzustellen, von der stimmlichen Leistung dabei ganz abgesehen.

Sir Bryn Terfel, der Dritte im Bunde, der an jenem denkwürdigen Abend ausgezeichnet wurde, ist als Balstrode die Position in der sängerischen Weltklasse nicht abzustreiten. Zur Gestaltung der weiblichen Hauptfigur Ellen hatte Bogdan Roscic während der Ehrung die Versprechung übrig, dass auch sie, Lise Davidsen, ein Bild unter denen aller Kammersänger im Gang zur Kantine sehr bald zieren würde. Angesichts ihrer schauspielerischen und sängerischen Leistung ein denkbares Ereignis! Noa Beinart (Auntie), Ileana Tonca und Aurora Marthens (Nichten), Thomas Ebenstein (Bob Boles), Wolfgang Bankl (Swallow), Stephanie Houtzeel (Mrs. Sedley), Carlos Suna (Horace Adams), Martin Häßler (Ned Keene) und Erik Van Heyningen (Hobson) komplettieren allesamt das großartig besetzte Ensemble. Eine Hervorhebung und ein großes Lob bedarf der Arnold-Schönberg-Chor unter der Leitung von Erwin Ortner, von dem 17 Mitglieder spontan für Teile des Staatsopernchores eingesprungen sind und in Peter Grimes eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Szenisch und musikalisch ist die Vorstellung trotz dieser Umdisponierung auf höchstem Niveau gewesen.

Ein schwerer Brocken ist er, dieser Peter Grimes. Die schöne Nachricht jedoch ist: Man kann mit ihm warm werden. Angesichts der Tatsache, dass sich wieder einige jugendliche Gesichter im Publikum ausfindig machen lassen konnten, ist dies auch eingetreten. Welch ein Glück, welch eine Bereicherung, solch eine bewundernswerte und jeden Jubel verdienende Produktion in der Heimatstadt besuchen zu können!