„Die Dubarry“ an der Volksoper Wien: Eine unterhaltsame Zeitreise mit durchaus kritischen Untertönen (15.10.2022)

Der Weg zum Erfolg kann langwierig sein, wie sich am Beispiel des für die Saisoneröffnung an der Volksoper Wien ausgewählten Stückes erweist – Die Dubarry heißt die Operette mit einer hochinteressanten Entstehungsgeschichte. Carl Millöcker hatte sich schon in den 1870er-Jahren des historischen Stoffes bedient und mit der Uraufführung von Gräfin Dubarry mäßige Resonanz erzielt; vier Jahrzehnte später wagte sich der Berliner Komponist und Dirigent Theo Mackeben an eine Neufassung, die die Persönlichkeit der Jeanne de Becu, ihres Zeichens letzte Mätresse des Königs Ludwig XV., in den Vordergrund rückte. Erst unlängst erweckte das von den Spielplänen verschwundene Werk wieder Interesse, wird es doch nächstes Jahr als historischer Spielfilm in den heimischen Kinos gezeigt. Jan Philipp Gloger nimmt sich für sein Regiedebüt an der Volksoper der beiden Operettenrezeptionen an und präsentiert eine in vielerlei Hinsicht ungewöhnliche Premierenproduktion.

Gemeinsam mit dem musikalischen Leiter Kai Tietje ist hier eine Fassung erstellt worden, die Millöckers und Mackebens Kompositionen vereinigt. Dass die Entstehungsdaten der Dubarry-Versionen gute 40 Jahre auseinanderliegen, ist hier zur großen Überraschung keineswegs störend, sondern bereichernd. Denn die Mischung ureigener Wiener Walzer und durchkomponierter Szenen im Stil der Goldenen Operettenära mit dem Pfiff und den Berliner Schlagern der frühen 1930er-Jahre wirkt völlig authentisch, gewährt dem Publikum also Einblick in gleich zwei Hochphasen des Musiktheaters. Dieses eigene musikalische Konglomerat ist vom Orchester der Volksoper Wien sorgfältig erarbeitet worden und trägt allein auf dieser Ebene zu einem gelungenen Abend bei.

Doch auch szenisch ist in dieser Eröffnungsproduktion einiges zu entdecken: So ist Mackebens Sichtweise auf diese Gräfin Dubarry, die sich von der untersten Arbeiterschicht im absolutistischen Zeitalter hin zur obersten Frau des Königreiches Frankreich hantelt, im Gegensatz zu Millöckers Libretto (die Titelfigur ist hier eine Nebenrolle) vom emanzipatorischen Rollenbild der Frau in der Weimarer Republik geprägt. Gloger nimmt diesen Aspekt auf, indem er die Handlung der Dubarry einer Zeitreise unterzieht. Schritt für Schritt folgt das Publikum der Jeanne de Becu: Wie sie in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts in einem Modegeschäft arbeitet, durch einen dort geknüpften Kontakt in den 1920er-Jahren als Sängerin in einem Bordell arbeitet, vom Graf Dubarry entdeckt am Hofe der Habsburgermonarchie eingeführt wird und schließlich eine Audienz bei Ludwig XV. erhält. Nachdem das Finale erklungen ist („Ja, so ist sie, die Dubarry“), verbleibt auf der Projektionswand lediglich der Hinweis, dass die Protagonistin letztendlich durch die Guillotine verstarb.
Im Zuge dieser Zeitreise arbeitet der Regisseur eben dieses Rollenbild der Frau genau heraus und zeigt die im Libretto klar thematisierten Problemstellen auf: So begegnen der Protagonistin Jeanne auf jeder historischen „Etappe“ die gleichen Figuren; ihre Gönner, Partner, Lehrer und Freundinnen machen diese Entwicklung mit, wodurch sich zeigen soll, dass das Phänomen der charmanten Frau, die sich durch Intellekt, Berechnung, Partnerschaften (und letztendlich bedingte Prostitution) ihren Weg an die Spitze bahnt, nicht zeitgebunden ist. Die Dubarry ist, wie Jan Philipp Gloger im Interview des Programmhefts feststellt, zugleich Täterin und Opfer dieser gesellschaftlichen Dynamik. In der Inszenierung zeigt sich dies durch die Kontrolle über ihren eigenen Weg, weil sie jegliche Beziehungen ganz gezielt und verwegen eingeht, die aber mit einem Verlust Hand in Hand geht, wie durch die Fast-Vergewaltigung im 1. Teil dargestellt – und das ästhetisch wenig subtil (und – Streitfrage – für eine Operette eher unpassend).

Auf der anderen Seite wird das Publikum dazu angeleitet, bestimmte Verhaltensweisen selbstständig zu hinterfragen. Ein starkes Beispiel hierfür ist die massive Verschwendungs- und Kaufsucht der historischen wie fiktiven Jeanne de Becu, die Gloger sehr schön mit der Gegenüberstellung zu einer Hungerleidenden im ersten Teil herausarbeitet. Niemals wird moralisiert, im Gegenteil ist es aber umso erfreulicher, dass dem Genre getreu ein Aufriss damaliger wie heutiger Diskussionsfelder geboten wird.

 

Amüsant geht es von der Gegenwart ins Habsburgerreich: Jan Philipp Glogers Regie hebt durch historisierende Merkmale das Zeitlose hervor (Fotos: B. Pálffy)

 

Und trotz all dieser Ausführungen bleibt der Aspekt eines unterhaltenden Operettenabends; so gesellt sich zum originalen Schmäh der Librettisten Knepler, Welleminsky, Cremer die Textfassung von Gloger und der Dramaturgin Andrea Vilter. Des Originallibrettos unkundig, gefällt einem diese Bearbeitung vonseiten der Volksoper sehr gut, indem sie Situationskomik und humorvolle, sprachlich moderne Anspielungen beinhaltet. Überraschend und positiv: Dadurch ergeben sich auch Wendungen der Gegenwart, die besonders im ersten Teil in Form von Anglizismen und heutiger Alltagssprache auftreten. Dies hat keineswegs eine (so könnte man vermuten) befremdliche Wirkung, sondern verleiht dem Stück eine gewisse Authentizität.

Insgesamt also überzeugt die Inszenierung mit ihrer Vielschichtigkeit. Ein Manko darf allerdings nicht unerwähnt bleiben: Da ist die Unzugänglichkeit zu benennen, die durch die Vermischung der verschiedenen Epochen droht und so manchen Zuschauer verwirren könnte. Auch der Humor ist passagenweise an ein akademisches älteres Publikum angepasst, indem Witze beispielsweise auf sprachliche Varietäten oder aber Fernsehserien der 1990er-Jahre abzielen (Harald Schmidt!) – hier wird es aus eigener Beobachtung für Angehörige jüngerer Generationen schwierig. Und so amüsant der zweite Teil des Weiteren war, so dringend hätte er eine leichte Straffung gebraucht, um das Publikum noch im Bann der Handlung behalten zu können.

Was Jan Philipp Gloger mit Dramaturgin Andrea Vilter, Christof Hetzer (Bühnenbild), Melissa King (Choreographie) und Sybille Wallum (Kostüme) auf die Beine gestellt hat, kann und sollte Musiktheaterliebhabern reichlich Stoff für Diskussionen geben – ein leichter, wenn auch langwieriger Operettenabend ist jedoch für den Rest des Publikums auf jeden Fall zu erwarten.