Dunkel wird es im Saal. Die Lichter erlischen, Musik setzt ein. Zwei junge Burschen, mit Angelruten bewaffnet und im Stil des 19. Jahrhunderts bekleidet, betreten die Bühne. „Hier am Mississippi, hier sind wir daheim“, singen sie stolz. Und das Abenteuer am Ufer des viertlängsten Flusses der Welt nimmt seinen Lauf.
Eigentlich wirkt die kleine Stadt, in der die Titelhelden Tom Sawyer und Huckleberry Finn aufwachsen, geradezu idyllisch. Gemeinsam sind sie ständig auf der Suche nach neuen Erlebnissen und machen die Gegend rund um den Mississippi unsicher. Aber der Schein trügt – gebe es da nicht die gestrenge Tante Polly, die Tom bei der noch so klein erscheinenden Kleinigkeit eine Strafe aufdonnert und seinen besten Freund, den Straßenjungen Huck, in ihrer Gegenwart nicht duldet. Aber auch die klatschsüchtigen Dorffrauen und deren Kinder, die ihn regelmäßig Tante Polly ans Messer liefern, machen Tom Sawyer gern zur Schnecke. Doch die größte Gefahr erwartet die beiden erst, denn der Gauner Indiana Joe ist mit seinen Komplizen in die Stadt zurückgekehrt. Tom und Huckleberry werden durch Zufall Zeugen eines Mordes, den nur sie gemeinsam mit den Töchtern des Sheriffs aufdecken können…
Diese Geschichte kommt bestimmt einigen bekannt vor. Sie stammt aus der Feder des amerikanischen Schriftstellers Mark Twain und wurde schon bald nach der Veröffentlichung zu einem absoluten Bestseller. Ihrer haben sich das Duo Norberto Bertassi und Norbert Holoubek angenommen und in ein Musical verwandelt, das wie jedes Jahr von den jugendlichen Darstellern des Vereins teatro im Stadttheater Mödling zur Uraufführung gelangt wäre. Aufgrund der strengen Hygienebestimmungen zur Eindämmung des Coronavirus musste heuer ein neues Zuhause gefunden werden und nach langem Ringen wurde die Europahalle, ein Mehrzwecksaal ganz in der Nähe vom Stadttheater, für „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ bestimmt. In den letzten Tagen vor der Premiere wurde der Saal Schritt für Schritt in ein Theater umgebaut, eine Bühne errichtet, Scheinwerfer montiert, Plakate aufgestellt und die Checkliste rund ums Corona-Präventionskonzept durchgegangen – alles war bereit für eine fulminante erste Vorstellung!
Norberto Bertassi, Intendant und Komponist zugleich, schuf gemeinsam mit dem musikalischen Leiter und Arrangeur Walter Lochmann ein wahrliches Meisterwerk des Musicals. Heuer zeichnet das Stück eine immense musikalische Bandbreite aus; von Rap-Elementen über Gospelchöre bis zu den typischen Broadway-Songs war da alles vertreten. Textbuch und Regie stammen wie immer von Norbert Holoubek, dessen genaue Ausarbeitungen der Charaktere und schlagfertige Wortwitze das Werk prägen. Einen Neuzugang gibt es dafür im Bereich der Choreographie, die diesmal Katharina Strohmayer übernehmen durfte und mit viel Einfallsreichtum und Engagement tolle Tanznummern entstehen ließ. Brigitte Huber, übrigens eine Nachfahrin des großen Malers Gustav Klimt, ergänzte das optisch sehr ansprechende Bühnenbild mit passenden Kostümen.
Diese perfekten Ausgangsbedingungen wussten die jugendlichen Darsteller zu nutzen und entwickelten sich auf diese Weise zu meinem persönlichen Highlight des Abends. Besonders in den schon musikalisch mitreißenden Ensemblenummern konnten sie sich voll entfalten und begeisterten mit ihrem Engagement und der Spielfreude, die das Publikum in jeder Sekunde am eigenen Leib zu spüren bekam. Doch auch einzeln vollbrachten sie Meisterleistungen, allen voran die Titelhelden Lorenz Pojer (Tom Sawyer) und Moritz Mausser (Huckleberry Finn). Mit viel Charme und Witz wussten die beiden ihre Rollen gekonnt umzusetzen, vermitteln trotz ihrer schwierigen Situation eine unheimliche Lebensfreude. Beide fliegen aus allen Wolken, als sie die Töchter des aus New York angekommenen Sheriffs zum ersten Mal sehen – Becky und Joe Thatcher (Nina Hafner und Anna Fleischhacker) – doch unterschiedlicher könnten die beiden wohl kaum sein. Tom und Becky verlieben sich Hals über Kopf ineinander, aber einen Strich durch die Rechnung haben die beiden bei der anhänglichen Amy Douglas (Lili Beetz) gemacht: Sie insistiert nämlich auf eine angeblich zwischen Tom und ihr vollzogene Verlobung. Auch Ben (Tobias Hornik-Steppan) ist bei den gemeinsamen Streichen seines Freundes Tom mit Huck gern dabei. Als die Sechs Zeugen eines grausamen Verbrechens werden und nur sie den wahren Tathergang aufklären können, schweißt sie dieses Ereignis extrem zusammen. Man spürt richtig, wie sehr diese Darsteller aufeinander eingespielt sind, gemeinsam harmonieren und jede Vorstellung mit vollem Einsatz angehen.
Kommen wir zu den Bösewichten in Mark Twains Erzählung. Nicolas Vinzenz gibt einen weniger furchteinflößenden als spaßigen Indiana Joe und plant mit seinen loyalen Kumpanen, das einen hinreißenden französischen Akzent sprechende Sensibelchen Choco (Sebastian Berchtold) und dem russischen Häfenbruder Wodka (Alex Hoffelner), einen letzten Coup. Dabei begleitet werden sie von Huckleberry Finns alkoholkranker Mutter Lindsey. Sophie Riedl versetzt sich gekonnt in die wohl extrem anspruchsvollen Charaktereigenschaften ihrer Rolle und glänzt im Quartett mit der Bande.
Schon Mark Twain war es beim Schreiben seines Buches ein wichtiges Anliegen, die Missstände seiner Zeit aufzugreifen und infrage zu stellen. So bekommt die Sklaverei in seinem Werk einen größeren Schwerpunkt, der auch ins Musical übernommen wurde. Mary April und Jim sind ergebene Bedienstete einer angesehenen Dorfbewohnerin. Doch lange wollen sie sich die ständigen Demütigungen nicht mehr gefallen lassen, bis die Lage zu eskalieren droht und Jim seine Geliebte überredet, gemeinsam mit Marys Schwester Missy (Milena Mörkl) zu fliehen. In einem berührenden Song betet Setareh Eskandari zu Gott um Führung und beweist nicht nur ihr schauspielerisches Talent, sondern wieder einmal ihre ganze Stimmgewalt und hervorragende Technik. Jan Ungar als Jim brilliert besonders im Bühnenkampf mit Choco und glänzt ebenfalls im Duett mit Setareh Eskandari.
Corinna Schaupp als Toms Tante Polly gibt sich zwar anfangs sehr streng, zeigt dann aber doch ihre Liebe zu ihm und sorgt sich um ihn, wie sie in einem rührenden Song feststellt.
Die sonst so vornehmen Dorfbewohnerinnen tauen unter der Führung von Charlotte Lawrence (Emily Fisher) komplett auf, als sie sich über ihr gemeinsames Manko austauschen: Denn seit langem fehlen die Männer im Dorf. In einer herrlich amüsanten Nummer tauschen sie sich über ihre Vorstellungen aus und bringen damit einige zum Schmunzeln.
In jeder einzelnen Sekunde Spielzeit konnte man förmlich die Spielfreude der jungen Darsteller aus der Luft greifen; die Freude, wider aller Erwartungen heuer doch noch dieses Musical auf die Beine stellen zu dürfen und gemeinsam seiner Leidenschaft nachzugehen. Gerade deshalb waren diese zweieinhalb Stunden ein reines Vergnügen. Auch heuer hat sich die Professionalität der Produktion wieder immens gesteigert; sie punktet mit eingängiger Musik, einem diese perfekt umsetzenden Orchester unter der Leitung von Walter Lochmann, tollen Choreographien, der großartigen Sound- und Lichttechnik von Richard Redl und nicht zuletzt mit dem vollen Einsatz des Ensemble – all das wurde mit nicht enden wollendem Applaus und Standing Ovations belohnt!