„Unser ganzer Stammbaum zerfällt in lauter Brettln“: „Die Csárdásfürstin“ und der Untergang der Donaumonarchie

Das Haus Lippert-Weylersheim ist stolz. So stolz auf seine Herkunft, dass den Gästen bei Besuch eine ausgiebige Führung durch die Ahnengalerie, die laut Hausherrin Anhilte „bis zu Kaiser Maximilian zurückdatiert“, nicht erspart bleibt. Zwar existiert dieses zentrale Fürstenpaar Lippert-Weylersheim lediglich in Musik und Text der Operette „Die Csárdásfürstin“, aber dennoch lassen sich viele Bezüge auf den tatsächlichen Status der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn im Jahre 1914 herstellen. Welche Aussagekraft diese fiktive Adelsfamilie in Emmerich Kálmáns Meisterwerk der Silbernen Operettenära rund um den Ausbruch des Ersten Weltkrieges hat, darum soll es in den folgenden Zeilen gehen.

Ein kleiner Exkurs in die Genealogie des Fürstenpaares: Sie sind Eltern des Protagonisten Edwin von und zu Lippert-Weylersheim, der wiederum seine Cousine Anastasia von Eggenberg, kurz Stasi, ehelichen soll. Zur weiteren engen Familie gehört Hauptmann Rohnsdorff; ein guter Freund des Adelsgeschlechts ist der ungarische Graf Kancianu, Boni genannt. Wie bereits erwähnt, ist den Lippert-Weylersheims der über viele Jahrhunderte gehende, „tadellose“ Stammbaum das Allerheiligste. Besonders Fürstin Anhilte legt großen Wert auf die Behaltung der standesgemäßen Heiratspolitik. Regelrecht erschüttert ist sie also, als sie erfährt, dass ihr Sohn Edwin eine Affäre mit der Chansonette Sylva Varescu führt. Während sie ihren Gatten Leopold Maria wegen seiner liberalen Ansichten rügt, möchte sie weiteren Kontakt ihres Sohnes zu Sylva mit allen Mitteln verhindern. Gegen Ende des Stückes erfolgt allerdings die große Auflösung: Auch Anhilte weist eine Varietévergangenheit auf und hat in das Adelsgeschlecht der Lippert-Weylersheims eingeheiratet – so macht es also die ältere Generation der jüngeren vor.

Leo Stein und Béla Jenbach greifen in ihrem Libretto dadurch bereits im Jahr 1915 die ersten Löcher im Teppich der k.u.k-Monarchie auf. Obwohl die Handlung vordergründig keine größeren politischen Züge aufweist, ist die „Csárdásfürstin“ dennoch eine literarische Vorhersage des Unterganges von Österreich-Ungarn. Es erscheint doch zutiefst verdächtig, wenn „Outcasts“ der Gesellschaft, Mitglieder der Unterschicht wie eben Anhilte und Sylva in einer sonst so strikten Ständegesellschaft zu Adeligen aufsteigen. Dazu kommt auch, dass der Skandalfaktor solcher morganatischen Ehen im Jahre 1914 trotz neoabsolutistischer Herrschaft relativ gering ausfällt – insofern wirkt es, als hätten die mächtigen Adelsfamilien die realpolitische Situation nicht mehr unter Kontrolle.

Hochadel trifft auf Outcast, Oberschicht auf Unterschicht: In der „Csárdásfürstin“ kollidiert die Ständegesellschaft Österreich-Ungarns (Foto: Barbara Pálffy/Volksoper-2018)

 

Weiters thematisiert wird in Kálmáns Operette der Nationalitätenkonflikt zwischen Österreichern, Ungarn sowie politischen Minderheiten. Als Beispiel sei hier Sylva selbst zu sehen: In ihrem Auftrittslied bezeichnet sie sich selbst als „Siebenbürger Mädel“, tritt aber auf der Bühne in Budapest als „Csárdásfürstin“ auf. Kálmáns Interesse ist laut Peter Dusek (siehe Programmheft „Csárdásfürstin“, Volksoper 2011) darin gelegen, eine harmonische Beziehung zwischen den einzelnen Völkern zu schaffen; in seiner Operette schafft er eine Utopie eines Landes, dessen Bevölkerung „frei von Vorurteilen“ leben kann. In der Realität sieht es allerdings ganz anders aus: Während Wien sich um die Herrschaft über Transleithanien bemüht, streben die Ungarn nach Magyarisierung und Unabhängigkeit.

Zurück zu den Weylersheims: Zwei Sprösslinge der Adelsfamilie, Edwin und Rohnsdorff, sind Mitglieder beim Militär. Durch diesen direkten Draht zu den Führungskräften sind auch Leopold Maria und seine Frau Anhilte bestens über die Vorgänge im Hause Habsburg informiert. Man kann annehmen, dass das fiktive Paar tief in der Gunst der Habsburger stehen würde; so weiß die Familie Lippert-Weylersheim schon Mitte Mai 1914, dass ein Krieg bevorstehe. Auch Edwin muss sich nun in die Dienste des Kaisers stellen und wird als Offizier zum Korpskommando einberufen. So sind sie ebenfalls im Bilde, dass sich Ferdinand und Sophie am 23. Juni auf den Weg nach Sarajevo machen werden – fünf Tage später fällt das Paar mit tödlichem Ausgang dem Attentat in Sarajevo zum Opfer. Die Folgen für das Habsburgerreich sind bekannt.

Wie kein anderes Werk hat die „Csárdásfürstin“ eine so kontroverse Einstellung zum Spätfeudalismus in der Donaumonarchie. Einerseits stehen die Autoren dem Kaiser durchaus positiv gegenüber, andererseits machen sie ihre handelnden Figuren zu Parodien auf den österreichisch‑ungarischen Hochadel. Stein und Jenbachs Libretto überzeichnet „Kupfer-Hilda“ Anhilte sowie ihren Göttergatten Leopold Maria mit viel Witz und Schlagkraft, während die beiden adeligen Ungarn Boni und Feri, wohl, um den polemischen Nationalismus der Zeit ein wenig zu verringern, dem österreichischen Hochadel in der Bedeutung gleichgestellt werden. Für den Zugang zur untergehenden Doppelmonarchie gilt das, was ein Kritiker bei der Uraufführung 1915 zu Kálmáns Musik meint: Sie „lächelt unter Tränen“. Denn die Autoren haben das Ende sicherlich kommen gesehen – und es humorvoll in der Weltkriegsoperette „Die Csárdásfürstin“ verarbeitet.