Kaum ein Musical passt so gut zu Großbritanniens Geschichte wie wohl das 2018 in London uraufgeführte „Six“. Wie der Name bereits vermuten lässt, geht es in dem Werk von Toby Marlow und Lucy Moss um die sechs Ehefrauen des berühmt-berüchtigten englischen Königs Henry VIII. Viele berühmte Komponisten und Dramatiker haben sich dieser spannenden Zeit der Renaissance und anglikanischen Reformation schon angenommen, darunter Gaetano Donizetti mit seiner Oper „Anna Bolena“ und Friedrich Schiller mit der berühmten „Maria Stuart“. Im Gegensatz zu diesen Werken bemühte sich das Autorenduo um eine moderne, mit dem 21. Jahrhundert vertretbare Sichtweise. Rahmenhandlung für die musikdramatischen Porträts ist eine Art konzertanter Wettbewerb; mit je einem Popsong rekonstruieren die sechs Königinnen ihre Ehe mit Heinrich VIII.
Divorced, beheaded, died, divorced, beheaded, survived. Mit diesem kinderleicht zu merkenden Reim stellen sich die Protagonistinnen dem Publikum im sechsminütigen Intro ‚Ex-Wives‘ vor und klären es über die Spielregeln des Wettbewerbs auf: Wem es gelingt, die anderen zu überzeugen, dass sie am meisten unter ihrem gemeinsamen Mann gelitten habe, soll Anführerin der Band SIX werden. Dann geht es auch schon mit der ersten Königin los.
- Divorced: Katherine of Aragon. Ursprünglich wäre Henry VIII. gar nicht der rechtmäßige Thronfolger Englands gewesen. Als zweitältester der drei Söhne des Hauses Tudor stand er in seiner frühen Kindheit ständig im Schatten des Kronprinzen Arthur. Seine Frau sollte die spanische Infantin Katherine von Aragon werden, die sich 1501 auf den Weg nach England machte. Allerdings starb Arthur krankheitsbedingt bereits nach nur vier Monaten Ehe, und Katharina musste ihre Tage in Einsamkeit und Armut, vernachlässigt von der königlichen Familie auf einem abgeschiedenen Landsitz verbringen. Indes versprach der jüngere Bruder Arthurs, die Prinzessin zu heiraten und somit bestieg Katherine mit Henry VIII. bald darauf den Thron. Leichter wurde ihr Leben dadurch nicht. Den sehnlich erwarteten Sohn gebar sie nicht, sie musste mehrere Mätressen an der Seite ihres royalen Ehemannes erdulden, und dann geschah das Unvorhergesehene: Henry wollte die Scheidung einreichen.
Im Musical erzählt die aufgeweckte, durchaus positive Katherine durch eine Art Rap von all ihren Schicksalsschlägen und wie sie diese mit stoischer Gelassenheit gemeistert hat, doch irgendwann platzt auch ihre Geduld – des Königs erste Ehefrau beginnt in ihrer Rage die erste Strophe von ‚No Way‘. Denn Henrys Befehl, Katherine in ein Kloster zu verbannen, hat das Fass für die junge Regentin eindeutig zum Überlaufen gebracht. Mit diesem flotten, blechbläserlastigen Uptempo-Song wird sie von den anderen, chorisch auftretenden fünf Königinnen unterstützt; auch wenn Katherine nebenbei Henrys drei Affären sowie die Annullierung der Ehe erwähnt, wirkt sie in der Musicalinterpretation nicht wie eine schicksalsgezeichnete Frau, sondern eher wie ein selbstbewusster, leicht schrulliger Popstar.
Geht man auf die historischen Hintergründe genauer ein, so war Katherine genau wegen ihrer Contenance beim Volk sehr beliebt. Mit Geduld, Ruhe und Würde ertrug sie Henrys verzweifelte Versuche, sich eine andere Ehefrau angeln zu können, und verbrachte ihr Leben bis zum Tod im klösterlichen Exil. Wie aus Berichten bekannt ist, war die Ex-Königin dennoch sehr gekränkt; auch, weil ihr ganzer mütterlicher Stolz, die spätere Maria I. (alias „Bloody Mary“) vom Hof verbannt worden war; während der Reformation blieb sie der papistischen Linie treu und erntete damit eine Menge Missfallen bei den königlichen Beratern. Dennoch – der Wettbewerb in Six ist noch nicht zu Ende. Einige von Henrys Frauen hatten es noch schwerer…
- Beheaded: Anne Boleyn. Sie ist besonders unter Opernfans (durch Donizettis Rezeption) die wohl bekannteste Königin an der Seite von Henry. War dessen zweite Ehefrau nicht nur de facto Auslöserin von Englands Bruch mit der katholischen Kirche, sondern auch ihr Schicksal außergewöhnlich: Sie wurde für Ehebruch im Mai 1536 im Tower of London geköpft. Der Weg bis zum Schafott ist Thema ihres Songs in SIX (‚Don’t Lose Ur Head‘). Im Call-and-response-Format beschreiben sie und die anderen Königinnen Annes Jugend in Frankreich und anschließende Flirtversuche mit dem englischen König. Die Rechnung geht voll und ganz auf: Henry fühlt sich geehrt und möchte seine Mätresse heiraten. Im Stück wendet sich Anne Boleyn an Katherine von Aragon mit diesen Worten der Entschuldigung – don’t be bitter / cause I’m fitter – und rechtfertigt sich damit, dass sie „nur ein bisschen Spaß haben“ wolle. Doch dieses Vorhaben geht nach hinten los, als Henrys zweite Frau feststellen muss, dass ihr Mann sie betrügt. Ihre Rache: Auch sie begeht Ehebruch, wofür sie allerdings bald darauf hingerichtet wird. Und Henry macht sich wieder auf Königinnensuche.
Grundsätzlich stimmen die wesentlichen Charakterzüge Annes mit historisch belegten Schriften überein. Die zweite Königin Englands an der Seite von Henry war überzeugte Anhängerin der Reformation, interessierte sich abgesehen davon aber nicht sonderlich für Politik. Wie im Stück später erwähnt, musste sie vier Fehlgeburten erleiden und hatte sicherlich kein einfaches Leben als Königin. Ob Anne tatsächlich promiskuitiv handelte, ist nicht gesichert: Angeklagt wurde sie aber wegen Ehebruchs und Inzucht, da man ihr vorwarf, mit ihrem Bruder George Boleyn eine Art Affäre gehabt zu haben. Was auch stimmt und vor allem bei Donizetti thematisiert wird: Schritt für Schritt stahl ihr die Hofdame Jane Seymour das Rampenlicht.
- Died: Jane Seymour. Ein Fels in der Brandung ist sie zwischen den stürmischen Charakteren Henry VIII. und Anna Boleyn. Was anfangs laut dem Botschafter von Karl V., Eustache Chapuys, eine „heftige Schwärmerei“ vonseiten Henrys war, endete mit dem Tod von Anne Boleyn und der Ausrufung von Jane als neue Königsgemahlin. Gekrönt wurde sie nicht, bevor sie einen Sohn gebar. Als sie dem langersehnten Thronfolger endlich auf die Welt verhalf, kam alles ganz anders.
Hier beginnt der Erzählstrang von Jane im Musical Six. Im Gegensatz zu den vorherigen Persönlichkeiten geht das Autorenduo Marlow und Moss weniger auf die historischen Hintergründe, sondern mehr auf Janes Gefühle ein. In der einzigen Pop-Ballade des gesamten Stücks, ‚Heart of Stone‘, erzählt die dritte Königin von ihrer Beziehung zu Henry, macht ihm eine Liebeserklärung – und bedauert, dass sie ihren Sohn niemals wird aufwachsen sehen. Denn auch sie muss, wenn auch durch einen natürlichen Grund im Wochenbett, sterben. Jane Seymours Song bietet eine gute Abwechslung zu den vorherigen, total aufgedrehten Nummern und kann auch mit dem sentimentalen Klavierarrangement so manche Träne im Publikum hervorlocken: und das völlig ohne Zusatz künstlerischer Freiheit, sondern allein mit dem historisch gedeckten Schicksal einer jungen englischen Königin.
- Divorced: Anna von Kleve. Zwar wird Henry nachgesagt, nie über den Tod seiner wahren Liebe Jane Seymour hinweggekommen zu sein, aber gleich nach der offiziellen Trauerphase heißt es wieder: König sucht Frau. Eine nicht unwichtige Rolle in dieser Entscheidung spielen die Porträts von Maler Hans Holbein, der Henry Bilder der Thronanwärterinnen präsentiert. Im Musical SIX wird dieses historische Ereignis quasi zum Intermezzo nach Jane Seymours berührender Geschichte – in einer eher uneleganten, aber dafür unterhaltsamen Mischung aus Deutsch und Englisch bekommen die sechs Königinnen mit dem Schlager ‚Haus of Holbein‘ ihre fünf Minuten pure Ausgelassenheit und Verrücktheit. In einer Art Beautycontest á la GNTM verkünden sie den Sieg der deutschstämmigen Prinzessin Anna von Kleve. Als diese 1540 in London ankommt und Henry sie erstmals sieht, möchte er aufgrund ihres realen Aussehens nichts mehr von ihr wissen.
Und so endet die Königin in spe geschieden und verwahrlost im Richmond Palace. Kein Grund, Trübsal zu blasen, findet sie, denn jetzt heißt es für Anna: I’m the queen of the castle! Betont lässig singt sie also ‚Get down‘, wirkt von der geplatzten Ehe nicht sonderlich beeindruckt, sondern genießt ihren Reichtum sowie ihre fidele Dienerschaft. Am Ende des Liedes gibt Anna dann auch zu, dass sie wohl kaum das härteste Los als Henrys Frau erlitten hatte; insofern ist zumindest eine der Frauen im Rennen um den Titel Bandleaderin draußen. Umso schlimmer erging es der nächsten…
- Beheaded: Catherine Howard. Analysiert man ihren siebenminütigen Song rein musikalisch, würde man gar nicht vermuten, wie schwer es Henrys fünfte Ehefrau tatsächlich gehabt haben mochte: ‚All You Wanna Do‘ sprüht vor Energie, hat eine eingängige Melodie, und der erste Satz ist sogar Teil eines TikTok-Trends geworden. Wirft man allerdings einen eingehenden Blick auf den Text, erfährt man mehr über Katherine Howards Leben. In allen vier Strophen geht es um ihre Liebhaber – Disclaimer: Der letzte von ihnen hat Catherine das Leben gekostet.
Vor ihrer Einführung am Hofe Henrys wuchs Catherine bei ihrer adeligen Stiefgroßmutter auf, wo sie zwei Affären – einmal mit ihrem Musiklehrer, einmal mit dem Sekretär der Gräfin – hatte. Mit einem Alter von ungefähr 15 (!) Jahren wurde sie Zofe des wieder geschiedenen Königs, der sie daraufhin zu seiner fünften Frau machen ließ. Eine glückliche Ehe wurde es nicht; während Henry immer öfter Bettruhe halten musste, hielt sich seine Frau von ihm fern und tanzte stattdessen mit einem Höfling durch die Nacht. Durch Denunziationen wurde sie mit Ehebruch belastet und landete, wie auch alle Liebhaber, bald darauf unter dem Beil des Scharfrichters. Im Musical SIX wird durch den Wortschatz Catherines in ‚All You Wanna Do‘ nicht nur deren für die Königsgemahlin unglaublich junges Alter, sondern auch deren zunehmende Müdigkeit gegenüber ihren Affären betont. Was beim ersten Liebhaber fast wie ein Spiel erscheint, steigert sich bis zur letzten Strophe in Ungeduld, Verzweiflung, Wut. In Moss‘ und Marlows Interpretation wird Catherine also zum Opfer sexuellen Missbrauchs, kann über ihren Körper nicht mehr selbst bestimmen. Auch wenn dies nicht historisch gedeckt ist, eines stellt die fünfte Königin nach ihrem Song nüchtern fest: And then I was beheaded.
- Survived: Katherine Parr. Sie ist die Katherine, die alle anderen Königinnen in SIX zusammenführt: Zwar musste auch sie einige Schicksalsschläge an der Seite von Henry ertragen, aber anstatt sich über die Gegebenheiten zu echauffieren oder gar den Sieg des Wer-musste-mehr-ertragen-Wettbewerbs anzustreben, setzt sie ein klares Statement mit dem Songtitel: I don’t need your love! Katherine ermutigt die anderen Königinnen, mit ihr aus dem Schatten des royalen Ehemanns zu treten und die Geschichte aus der Sichtweise der sechs Frauen nachzuerzählen.
In einem Remix, dem Finale des Musicals, lösen sich die sechs Frauen nun von der Beziehung mit Henry. Sie zeigen nicht nur Teamgeist, sondern auch, dass sie mit ihrem teilweise unglücklichen Leben abgeschlossen haben und die Zukunft positiv gestalten wollen. Dadurch schaffen es die Autoren, das in der Renaissance angesiedelte Musical auch für die heutige Zeit relevant zu machen und dem Ganzen eine feministische Sichtweise hinzuzufügen. Anstatt in die Opferrolle zu schlüpfen, fordern die sechs Königinnen nach Anerkennung als Einzelpersonen – und nicht als Henrys politische Spielzeuge. Was am Ende der Show bleibt? Nun ja, dass durch die Aufarbeitung mit Popmusik besonders junge Leute ein Gespür für die Geschichte Englands bekommen und mehr über die wahren Persönlichkeiten hinter dem Mythos Henry VIII. erfahren; und das mit hervorragendem Gegenwartsbezug, der vor allem Frauen ermutigen soll, Respekt vom anderen Geschlecht einzufordern.