04.10.2021: „Orphée et Eurydice“ (Kammeroper Wien)

Mit zweijähriger Verspätung wurde in der Kammeroper des Theaters an der Wien im Frühherbst die Aufführungsserie von Glucks wichtigster Oper „Orphée et Eurydice“ nachgeholt. Wer mit dem Werk vertraut ist, wird die Abänderung im Titel wohl erkannt haben: Regisseur Philipp M. Krenn verlagert die Handlung nicht nur in ein Krankenzimmer der Gegenwart, sondern zeigt als zentrales Paar zwei Frauen – eine der beiden, Eurydice, entscheidet sich bei Anwesenheit ihrer Angehörigen und ihrer am Boden zerstörten Freundin Orphée für eine lebensbeendende Infusion. Wie auch in der von Ovid geschilderten Sage taucht die Liebesgöttin L’Amour auf und zeigt Orphée die Möglichkeit auf, ihre Partnerin zu retten: Dafür müsse sie Eurydice in der Unterwelt finden und gemeinsam mit ihr den Weg zum Irdischen beschreiten, ohne sie jedoch anzusehen. Nach beschwerlichen Begegnungen mit Geistern und dem Höllenhund Zerberus ist das Tageslicht nicht mehr weit. Eine Auseinandersetzung mit Eurydice später kann Orphée nicht mehr widerstehen – vor Orphées Augen verschwindet Eurydice für immer.

Es ist eine ungewöhnliche Version jener Vertonung des berühmten Orpheus-Stoffes, die Regisseur Krenn und musikalischer Leiter Raphael Schluesselberg kreiert haben: Sie haben sich für eine Mischung der italienischen und später entstandenen französischen Fassung von Glucks Oper entschieden. Das Konzept dahinter ist sogar auf den ersten Blick ersichtlich: Der Wechsel der Sprache soll hierbei die Trennung zwischen Ober- und Unterwelt verdeutlichen. Eine weitere Auffälligkeit ist der szenisch hervorragend umgesetzte Einsatz des Chors. Den jeweiligen Chormitgliedern sind einzelne Rollen, wie beispielsweise in der ersten Szene Verwandte der sterbenden Eurydice, zugeschrieben worden, die später als Schreckgespenster der Unterwelt wiederkehren.

Ein steriles Krankenzimmer als Tor zur Hölle: Philipp M. Krenns moderne und grausam lebensnahe Version der Gluck-Oper (c): Prammer

Zusätzlich zu den musikalischen Besonderheiten dieser Neuproduktion ist das gegensätzliche Bühnenbild von Christian André Tabakoff einer Erwähnung wert: Fesselnd, was aus der kleinen Bühne der Kammeroper mit platzenden Wänden und schaurigen Lichteinstellungen gemacht worden ist – nicht zu vergessen die rückblendenartigen Projektionen während der Ouvertüre, die vermuten lassen, wie freudig und schön das Leben von Orphée und Eurydice vor Krankheit letzterer gewesen sein muss. Somit ist trotz aller Veränderungen der ursprünglichen Handlung (vom Charakter des antiken Orpheus bleibt subjektiv nicht viel erhalten) ein fortlaufender Bogen gespannt worden, der auch die Rollengestaltung höchst authentisch wirken lässt.

Einen guten Teil zum Gelingen des Abends tragen die Solistinnen bei; allen voran „Orphée“ Sofia Vinnik. Allein ihre schauspielerische Leistung ist beachtlich, ist die Protagonistin doch Ausgangspunkt des zentralen Konflikts: Allein an ihr liegt es, die Partnerin zurückzuholen. Was Vinnik mit Mimik und Gefühlen echter Zerrissenheit zu senden vermag, bahnen sich ihre Furcht und Hoffnung direkt in die Herzen des Publikums. Stimmlich ebenfalls nur positiv aufgefallen, wird sie hervorragend durch das lyrische Timbre von Ekaterina Protsenko als Eurydice ergänzt. Musikalisch wie auch szenisch harmonieren die beiden Sängerinnen perfekt. Eine sehr körperliche Personifikation der Liebe, „L’Amour“, wird zum Drahtzieher des Plots: Anita Rosati begeistert mit toller Bühnenpräsenz und ihrem schlanken Sopran. Der Arnold-Schoenberg-Chor unter Einstudierung von Roger Díaz-Cajamarca glänzt in den ihm zugeschriebenen Rollen. Ein Segen, dass diese Passagen nicht – wie recht häufig bei Glucks „Orfeo“ praktiziert  – gekürzt worden sind.

Diese Version des Orphée begeistert mit einem ausgeklügelten Regiekonzept, das das Publikum zum Nachdenken anregen kann. Die Grundzüge der Sage beibehaltend, wirkt die Liebesgeschichte von Orphée und Eurydice durch passende Projektionen und durch Versetzung in die Gegenwart greifbar und packend. Eine absolut sehenswerte Produktion!